Samstag, 3. Juni 2006
Real Drive
Im ICE 1015 zwischen Berlin und Leipzig. Heute 19.20 Uhr. Es knackt im Lautsprecher.
Zwei Minuten später greifen alle zum Handy. Warum?

Ganz einfach. In den dazwischen liegenden 120 Sekunden hatte der Schaffner uns informiert, dass die aktuelle Verspätung 43 Minuten beträgt. Also müssen die wartenden Freundinnen informiert, die Chauffeure hingehalten werden. Noch wenige Minuten früher betrug die Verspätung übrigens nur die Hälfte. Die hatte der Zug schon nach Berlin mitgebracht. Den Aufschlag gab’s dann wegen der nun notwendigen Umleitung. Ich will das jetzt nicht noch komplizierter machen, als es ohnehin schon war. Aber es scheint mir ein ganz probater Weg, wie man als unschuldiger Fahrgast nach jeder SMS an die wartende Freundin an Glaubwürdigkeit verliert. Wie man sich denken kann, sinkt auch die Motivation der Chauffeure mit jeder Minute, die draufkommt.
Da lauern persönliche Schicksale hinter der bloßen Addition von Minutenzahlen. Dramatische Auseinandersetzungen in den nächtlichen Ankunftsorten. Oder eine dramatische Stille. Weil die Freundin unter Umständen schon weg ist. Einfach so. Mit dem Zug. Obwohl, dann besteht die Möglichkeit, sie irgendwann einzuholen.

Übrigens war die Verspätung Folge einer eklatanten Triebschwäche. Genauer einer „Antriebsschwäche“. Denn eben das hatte der Schaffner als Ursache angegeben. Deshalb durfte der Zug auch nicht per Tunnel in den Berliner Hauptbahnhof einfahren. Den neuen. Und die wartenden potenziellen Fahrtgäste hatten die Chance, bei einem Wettlauf von ganz unten nach ganz oben den neuen Bahnhof mal von seiner besten Seite kennen zu lernen. Nämlich hinsichtlich seiner Rekordzahl an Stufen, die man dort von unten nach oben klettern kann. Wenn man will. Oder muss.
Aber selbst die Fahrgäste mit „Antriebsschwäche“ schafften es dann doch. Denn wie gesagt, der Zug brachte ja schon eine beruhigende Verspätung mit.

Die Hinfahrt heute Vormittag verlief dagegen ganz gemütlich. Weitestgehend jedenfalls. Denn ich hatte nur noch eine Platzkarte für das Raucherabteil bekommen. Kuhlumbus eine Stunde im Raucherabteil, das ist in etwa so, als würde man die Kuh Gasoline eine Stunde lang an den Elektrozaun lehnen. Vor mir saß eine gutgelaunte Fränkin, die lautstark die Beatles-Songs mitsang, die ihr der MP3-Player aufs Ohr knallte. Dazwischen gab’s nen Zug aus der Batida de Coco Pulle und andere AlkoPops. Da ich der einzige Flaschenöffner in Reichweite war, hab ich sogar mitzählen dürfen.



Die Kommunikationsversuche der anderen Fahrgäste mit der lustigen Raucherin waren nicht uninteressant. Der junge Mann ihr gegenüber knautschte seine Süddeutsche zusammen und setzte sich demonstrativ die Kopfhörer seines iPod auf. Allerdings machte er dabei einen so gequälten Gesichtsausdruck, dass man vermuten musste, er hörte sich jetzt zum dritten Mal den Podcast seines ungeliebten Chefs an. Oder so was.
Der junge Mann schräg hinter der Beatles-Frau dagegen stellte eine Flasche Moskovskaja Vodka auf das Ablagetischchen. Entweder er wollte einfach den Einsatz an Prozenten kommunikativ wirksam erhöhen (was allerdings ignoriert wurde), oder aber er konnte die Beatles nicht leiden. Und litt unter ihnen.

Im Moment wird gerade wieder telefoniert. Nach der letzten Ansage der Lottozahlen Verspätungsminuten. „Papa, ich komm heute nicht mehr nach Hause. Ich fahre jetzt durch bis Nürnberg und hoffe, dass meine Freundin noch da ist, wegen Pennen.“ „…?“ „Was ich mache, wenn sie schon weg ist? Weiß nicht, keine Ahnung...“
Ich sag’s ja. Ganze Schicksale kommen in Bewegung …
Wie ein ICE. Oder schneller. :o)

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