Samstag, 20. Dezember 2008
Flaschenkinder
Deutschland säuft.
Wir sind nicht nur Papst, gefühlter Fußball- und nicht gefühlter Exportweltmeister, nein, wir hängen auch an der Flasche ...

Inzwischen kennen die Deutschen kaum noch Hemmungen, die Flaschen in Extragröße und für alle sichtbar mit sich herumzuschleppen und sie bei jeder passenden und nicht passenden Gelegenheit zum Munde zu führen. Egal ob Bionade oder Coca Cola, ob Wasser aus der Leitung oder aus dem Supermarkt, ob Schwarzer, Grüner oder gelber Tee, Hauptsache es fließt und befeuchtet die ausgedörrten Stellen in einem drin. Und das müssen bei manchen ganze Wüsten sein, gemessen an den kurzen Zeiträumen, die der Deckel auf der Flasche bleibt.
Manche der ausgedörrten Schlucker schaffen es kaum noch, einen Satz zuende zu bringen, bevor sie schon wieder wie unter einem geheimnisvollen Zwang stehend nach ihrer Flasche greifen. Durch die viele Flüssigkeit ist ein flüssiges Kommunizieren nicht mehr möglich, sozusagen. Andere reden aus genau diesem Grund nur noch in abgehackten kurzen Sätzen - das ermöglicht eine Kommunikation wenigstens auf einem rudimentären Level, ohne gleich das Austrocknen des eigenen Körpers zu riskieren.
Wobei die Säufer immer öfter auf Gesprächspartner treffen, die ihrerseits auch schon an der Flasche hängen. Wenn man jetzt die Befeuchtungsabläufe miteinander synchronisiert kriegt, dann bekommt man sogar das eine oder andere vollständige Gespräch zustande. Immerhin.

Natürlich hat auch die Wirtschaft schon darauf reagiert. Ähnlich wie bei den Handyfächern findet man jetzt an Rucksäcken, Kinderwagen oder ähnlichen Transportmitteln ein eigenes Flaschenfach. Groß genug für die rettenden Liter, gut erreichbar für Notfälle. Bei den Kinderwagen muss man sich allerdings noch entscheiden, für welchen Notfall man eher vorsorgt, für ein vor Hunger schreiendes Kind oder den eigenen fallenden Flüssigkeitspegel. Nach dem akustischen Eindruck aus der letzten Zeit verschieben sich wohl selbst dort gerade die Prioritäten ...

Rätselhaft bleibt, wie es zu diesem ausgeprägten Suchtverhalten gekommen ist. Denn Sucht ist es allemal – man muss nur einmal beobachten, was abgeht, wenn die Flasche zu einem unerwarteten Zeitpunkt leer ist oder der Deckel klemmt oder so etwas in der Art.
Da scheinen solche Erklärungen plausibel, wie beispielsweise die, dass sich immer mehr Leute auf diese Weise das Rauchen abgewöhnen. Dagegen spricht allerdings das niedrige Alter eines großen Teils dieser Flüssigkeitsjunkies. Obwohl - das ist ja inzwischen auch kein Argument mehr.
Gewagtere Theorien verweisen darauf, dass zumindest in Deutschland das Aufkommen dieses Phänomens mit dem Kinostart von „Die Mumie“ zusammenfällt. Nun hat es sicher schon vorher ähnlich trockene, oder besser gesagt dehydrierte Filme gegeben, aber die heutige Jugend ist vielleicht empfänglicher für vermeintliche ernährunspädagogische Hinweise, wenn sie denn auf diesem Wege an sie herangetragen werden.

Die meisten Wissenschaftler halten es jedoch für wahrscheinlich, dass das neue Suchtverhalten wie vieles andere auch Vorbote und zugleich Folge der Klimakatastrophe ist. Möglicherweise dadurch, dass bestimmte mutationsbewirkte Verhaltensänderungen durch einen sich wandelnden gesellschaftlichen Kontext für die gesamte Population zum Ritual werden. Schick ist, was feucht macht. Wer trinkt, bleibt. Oder so. Sinnvoller Weise - wenn man denn den Befürwortern, ähm, den Vertretern der Klimakatastrophenvorhersage folgt.

Aber deren Gegner haben natürlich auch so ihre Theorien. Nach denen ist es zum Beispiel gar nicht ausgeschlossen, dass der Mensch – geschichtlich gesehen - nicht klimakatastrophal in die Wüste unterwegs ist, sonder eher evolutionsbiologisch zurück ins Meer.
Und da sorgt die Natur eben schon ein bissl vor. Immer mehr Feuchtigkeit um einen herum und auch in einem drin. Kommunizieren unter sich wandelnden Bedingungen, hin zur Hydrophonie. Bei den Walen geht das ja schließlich auch.
Interessant wäre sicherlich der Zeitpunkt, ab dem die neue Generation der Flaschenkinder die Flüssigkeit nicht nur in sich hineinschüttet sondern ihr auch den notwendigen Sauerstoff entnimmt.

Spätestens dann sollte man alarmiert sein.
Denn irgendwann als der Letzte da zu stehn, der noch ohne Kiemen herumläuft, wäre für ein künftiges Leben im Meer ziemlich blöd.
Oder?

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Sie haben einen Schreibstil, da hauts einen ja aus den Socken. Das macht einfach nur Spaß...also das Lesen...

Irgendjemand hat mal gesagt, dass viel trinken ganz wichtig ist und jetzt müssen das alle tun. Dabei kann man sich sogar relativ schnell ne Wasservergiftung holen. Auserdem muss man da doch auch ständig aufs Töpfchen...Schon allein deswegen habe ich diesen Trend komplett ausgelassen.
Beim Essen hat man ja sogar ein Wort für die Aufnahmegrenze und zwar satt. So etwas gibt es aber nicht für das Trinken. Aus der Richtung sind der elenden Säuferei also schon mal keine Grenzen gesetzt.Aber auch der Körper zeigt einem ja höchstens nur beim Alkohol an, dass man zu viel gesoffen hat. Der Osmoserezeptor (für das Durstgefühl) der irgendwo im Hals sitzt, kann ja auch nur dann Alarm schlagen wenn es zu wenig ist. Anscheinend hat der (wer auch immer), der den menschlichen Körper geplant hat, nicht damit gerechnet, dass es eines Tages Idioten gibt, die ständig trinken müssen...Schade eigentlich...

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Oh,
danke fürs Spaß haben. :o)
Hm, dann wird der Osmoserezeptor oder besser gesagt seine Begrenztheit zum Knackpunkt menschlicher Geschichte. Während wir an einem Ende recht und schlecht gegen das Verhungern kämpfen, fangen wir am anderen Ende an zu ertrinken ...

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Sie bedanken sich bei mir, dass ich Spaß habe?...Das ist ja ein edler Service hier :-)

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Das
passiert nicht wirklich ohne Eigennutz. :o)
Es macht mir nur Spaß, etwas zu schreiben, wenn ich weiß, irgendwer hat diesen dann auch beim Lesen.

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Ich verstehe Sie vollkommen. Geht mir ja genau so...Ich stell mir dann immer vor wie andere darüber lachen...So etwas macht Spaß ist aber nicht immer einfach.
So ein Text ist eben nix Totes, sondern lebt irgendwie...Man steckt ein paar Emotionen zwischen die Zeilen und ein anderer kann diese empfangen. Auch wenn der Mensch nicht sitt werden kann, dass er das kann ist wirklich einzigartig... :-)

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Und
damit der Text auch weiter "irgendwie lebt", schieben wir ihn mal wieder nach oben. :o)
Wär schade um die beiderseitigen Emotionen ...

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Mir ist zu dem Thema noch etwas eingefallen, da ich gerade meine arabischen Urlaubserlebnisse niederschreibe...Und zwar war ich mitten im Ramadan in Damaskus. Ramadan ist ja der Fastenmonat der Muslime und zwar dürfen die tagsüber nix essen und auch nix trinken. Dabei ist es dort deutlich wärmer als bei uns hier, doch ich habe dort noch keinen verdursten sehen. Die haben auch keine Kamelhöcker auf dem Rücken um das Wasser zu speichern und austrocknen tun die auch nicht. Solch ein sukuhlentes Verhalten ist den hiesigen Volvicfanatikern wahrscheinlich vollkommen unverständlich aber es ist tatsächlich möglich den ganzen lieben langen Tag nix zu trinken. Millionen von Muslimen beweisen das jedes Jahr...

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Zurück zur Natur
Ich sehe das so ähnlich und erweitere: daß dieser seit nunmehr zehn Jahren anhaltende und offenbar durch nichts zu tilgende Tick mit der intensiven Werbe- und PR-Tätigkeit der Getränkeindustrie zusammenhängt. Die hatte sich an – vermutlich von ihr in Auftrag gegebene – wissenschaftliche Untersuchungen drangehängt, nach denen der Mensch vor dem Austrocknen bewahrt werden müsse. Drei Liter täglich, mindestens! Sonst naht der Tod. Am interessantesten finde ich dabei, daß diese Erkenntnisse so überholt sind wie die Fehlberechnung seinerzeit beim Spinat, das aber in der beim Zielpublikum noch nicht angekommen ist. Oder nicht angenommen darf. Jedenfalls nicht, solange die taschenherstellende Industrie noch das eine oder andere PR-Wörtchen mitzureden hat.

Aber das mit den Kiemen, das gefällt mir gut. Das entspräche meiner Vorstellung von einem Zurück zur Natur.

Ja, ein schöner Text!

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Tja,
meine Generation hatte es eher noch mit den PR-Garden der Fleischhersteller zu tun. Leider. Oder auch nicht.
Denn selbst mit Kiemen muss man ja kein Vegetarier werden, fällt mir grad ein. :o)

Einen schönen vierten Advent allen Mitlesern!
Besonders an die anterthalb Fussel! Und das halbe Blümchen! :o)

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sitt oder nicht sitt...
...keine frage, bleibt da offen. hier vermischen sich die verschiedensten politischen themen zu einer satire en gros, die man nur lesend genießen, maximal noch dankend kommentieren kann. und für alle, die es noch nicht wissen: seit 4 oder 5 jahren existiert das wort "sitt" - künstlich geschöpft und im duden längst aufgenommen - als wässriges äquivalent zu satt.

guten abend.

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Übrigens
war es eine Getränkefirma, die den Wettbewerb um das flüssige Pendant zu "satt" mit ausgelobt hatte. :o)
Aber ich weiß nicht, ob ich mich selbst irgendwann einmal tatsächlich "sitt" fühlen werde.
Vielleicht sollte ich öfter zur Flasche greifen. :o)

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Oh man...
...da hatte ich, als ich den Text las, natürlich sofort einen Impuls - nicht den zu trinken, sondern einen Kommentar zu schreiben. Ist aber unlustig...egal, Impuls ist Impuls, also das Zitat, das mir beim Lesen in den Sinn kam, ist von Alastair McIntosh.

Drinking is filling yourself with emptiness.

Ich schätze, das gilt für jegliches Konsum-in-Sinne-von-Kompensation-Verhalten.
Bevor es jetzt zu trocken wird, hör ich auf
:)

PS.: Schön, dass du wieder Zeit gefunden hast zu schreiben!

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Ha,
schön, dass du Zeit gefunden hast zu kommentieren. :o)
Du weißt, ich mag keine emptiness unter meinen sonstwas kompensierenden Texten ... ;o)

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